Artikel über die Gemeinschaft Sankt-Martin in der Tagespost
24. April 2015 / Tagespost
Wo hierzulande Glauben scheinbar Raum dadurch gewinnt, dass Gemeinden zusammengelegt und umstrukturiert werden, wo Seminare geschlossen und Kirchengebäude verkauft und anderweitigen Nutzungen dienstbar gemacht werden, tut sich beim Nachbarn Frankreich Gegensätzliches und reichlich Erstaunliches.
Dort war in der Diözese Blois das Anwesen für die angehenden Priester und Diakone zu klein geworden – sämtliche Zimmer waren belegt, auf den Gängen staute es sich, die Unterrichtsräume waren überfüllt, und in der Kapelle gab es keinen Platz mehr für weitere Chorgestühle. 2014 zog das Seminar der Gemeinschaft Saint Martin schließlich um – in eine andere Diözese, nach Laval. Hier, in Notre Dame d’Évron, einer ehemaligen Benediktinerabtei 260 Kilometer westlich von Paris gelegen, haben heute etwa hundert junge Männer ihr Domizil gefunden.
Ins Leben gerufen wurde die Gemeinschaft Saint Martin in den bewegten Jahren nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Abbé Jean-François Guérin, ein Priester aus dem französischen Bistum Tours, hatte Kontakt zu etlichen Studenten, die sich zwar zum Priestertum berufen fühlten, jedoch nicht in ein diözesanes Seminar eintreten wollten, da die Ausbildung dort nicht ihren Vorstellungen entsprach. Das von der Priesterbruderschaft St. Pius X. betriebene Seminar im schweizerischen Écône lehnten sie ebenfalls ab. Mangels Alternative gingen einige daraufhin ins Kloster, doch was sollten diejenigen tun, die einen Ruf zum Weltpriester hatten?
Und so gründet Guérin 1976 die Gemeinschaft Saint Martin, die „Communauté Saint Martin“, wie sie in Frankreich heißt oder auch kurz CSM, in Voltri in der Diözese Genua, über die der Erzbischof von Genua, Kardinal Giuseppe Siri, bis zu seinem Tod im Jahr 1989 ein wachsames Auge hat. 1993 siedeln Mutterhaus und Seminar nach Candé-sur-Beuvron in die französische Diözese Blois um. Die „ideologischen“ Vorbehalte, ja sogar „Kämpfe“ früherer Zeiten – als man in den sogenannten „progressiven“ Bistümern Priester in Soutane und Messen auf Latein noch fürchtete – scheinen sich in Frankreich langsam zu legen. Denn lange Zeit wurde die Gemeinschaft Saint Martin wegen ihres traditionellen Habitus und ihrer Ausrichtung an das Lehramt der Kirche an den Rand gedrängt – doch nun hat sich der Wind gedreht. Nach Paris und Toulon ist die Ausbildungsstätte der Communauté mittlerweile zum drittgrößten Seminar der Kirche Frankreichs aufgestiegen.
Acht Jahre Ausbildung, eines davon in der Pfarrei
Welches Geheimnis verbirgt sich hinter der unaufhörlich wachsenden Gemeinschaft, in die mittlerweile ein Viertel der Berufungen Frankreichs Jahr für Jahr eintritt?
Die jungen Männer, die hier acht Jahre Ausbildung durchlaufen – eines davon in einer Pfarrei, haben nicht selten bereits ein abgeschlossenes Studium oder eine andere Berufserfahrung hinter sich und kommen aus den verschiedensten Bereichen: Guillaume ist Jurist, Vincent, 34, hat zuvor mehrere Jahre bei einer amerikanischen Versicherungsgesellschaft gearbeitet, der zehn Jahre jüngere Bertrand ist Absolvent der ESSEC – einer der französischen Elitehochschulen, die heute zu den weltweit führenden Business Schools gehört. Der gleichaltrige Benjamin aus Lausanne hat gerade sein Ingenieursdiplom in der Tasche. Warum haben sich der Sohn eines Arbeiters und ehemalige militante Atheist, der zur katholischen Kirche konvertiert ist, und all die anderen ausgerechnet Saint Martin angeschlossen? Weil sie von der besonderen Atmosphäre, die im Seminar herrscht, beeindruckt sind. Einer drückt es so aus: Sein Leben habe „eine Richtung bekommen. In der Pfarrgemeinde habe ich es noch nie erlebt, dass man auf diese Weise Priester sein kann. Ich mag es, dass man sich hier nicht dafür entschuldigt, Priester zu sein.“ Und ein anderer sagt: „Ich war überrascht von der Balance zwischen menschlicher Zuwendung und Berufung dieser Priester. Hier macht man sich von sich selbst frei.“
Was ist bei der Gemeinschaft Saint Martin anders? Was entdecken die jungen Männer hier, was sie in den „normalen“ diözesanen Seminaren vermissen? Schließlich entscheiden sie sich für eine anspruchsvolle Ausbildung, die sich nach thomistischen Grundsätzen ausrichtet: Die in das Ausbildungshaus integrierte Hochschule für Theologie ist seit 2007 der Päpstlichen Lateranuniversität angegliedert. Ein hoher Stellenwert wird der Feier der Liturgie eingeräumt. Sie wird in ihrer lateinischen Form nach dem Messbuch Pauls VI. zelebriert – wenn auch nicht in der außerordentlichen Form, wie sie in anderen „traditionellen“ Priesterseminaren zelebriert wird. Durch die Liturgie treten wir in Kontakt mit Gott, so formuliert es der Generalmoderator der Gemeinschaft Paul Préaux: „Wenn wir nämlich unsere Aufmerksamkeit allein auf die Art und Weise konzentrieren, die Liturgie anziehend, interessant und schön zu gestalten, dann riskieren wir dabei, das Wesentliche zu vergessen: Die Liturgie wird für Gott und nicht für uns selbst gefeiert.“ Die Kleriker tragen Soutane, um Zeugnis von ihrem Stand abzulegen.
Doch an erster Stelle steht für alle hier, dass sie sich von dem Gemeinschaftsleben angezogen fühlen. Don Louis-Hervé Guiny, der Rektor des Priesterseminars, erklärt das mit dem Anspruch von Saint-Martin: „Wir formen hier in erster Linie Menschen – die Männer, die zu uns kommen, verzichten auf eine Frau, eine Karriere, eine Familie. Ihre Humanität als Mensch muss sich daher in einer authentischen spirituellen Väterlichkeit entfalten.“
Das Leben in der Gemeinschaft beugt den Gefahren der Einsamkeit in der Vereinzelung vor, denen Priester zuweilen in ihren Gemeinden ausgesetzt sind. Wenn sie an ihren Einsatzorten zumindest zu dritt leben, können sie sich in schwierigen Zeiten gegenseitig unterstützen und damit dem Abdriften in die Isolation entgegenwirken. Außerdem führen die Kandidaten auf den Priesterberuf den Haushalt in Eigenregie, angefangen vom Geschirrspülen bis hin zur Gartenarbeit, damit sie sich auf die Hingabe ihrer selbst vorbereiten können.
Ein weiteres Charakteristikum, das die Priester und Diakone der CSM auszeichnet, ist ihr hohes Maß an Flexibilität. Der Patron der Gemeinschaft, der heilige Martin von Tours, ist der Schutzheilige der Reisenden, und so sorgt er dafür, dass es den ihm anvertrauten Geistlichen ohne diözesane Bindung ohne Schwierigkeiten gelingt, von einem Ort an den anderen zu wechseln, je nachdem, wo sie hingerufen werden. Bisweilen wird die CSM daher auch als „schnelle Eingreiftruppe“ der französischen Bischöfe bezeichnet. Sie leitet zwei diözesane Internate, organisiert Freizeitlager für Jugendliche und veranstaltet Wallfahrten und Exerzitien.
Bisher ist die dem Heiligen Stuhl unmittelbar unterstellte Gemeinschaft Saint Martin in mehr als fünfzehn französischen Diözesen präsent, und dreißig Bischöfe haben sie um die Entsendung von Priestern gebeten. Sie sind derzeit außer in Frankreich auch in Italien und in Kuba tätig. Dennoch: Ganz geheuer ist dem Generalmoderator Don Paul Préaux ein so rasantes Wachstumstempo aber nicht. Schon gar nicht hört Don Préaux es gern, wenn man im Hinblick auf die CSM von „Erfolg“ spricht, wobei er sich auf eine Bemerkung von Kardinal Ratzinger bezieht, der – wiederum Martin Buber zitierend – im Jahr 2000 sagte, dass Erfolg „keiner der Namen Gottes“ sei. Seit zwei Jahren versucht Don Préaux den Aufwärtstrend abzubremsen. Weshalb? „Atemlosigkeit ist eine Gefahr für eine junge Gemeinschaft“, gibt er zu bedenken. Denn allen Gesuchen kann der Rektor gar nicht nachkommen. Schon vor zwei Jahren hätte er für die hohe Nachfrage 450 Seminaristen ausbilden müssen.
Kennenlernen können junge Männer und Frauen zwischen 17 und 30 die Gemeinschaft übrigens bei der jährlich stattfindenden Wallfahrt „Route Saint Martin“ – in diesem Jahr vom 30. Juli bis zum 10. August.
Die Gemeinschaft Saint Martin bietet auf ihrer Webseite vielfältige Informationen zu ihrem Apostolat: